Gewalt gegen Rettungskräfte: Brauchen unsere Helfer bald selbst Hilfe?
Sven Puchert ist aktiv bei der freiwilligen Feuerwehr tätig und engagiert sich in hohem Maße für andere Menschen. Bei seinem letzten Einsatz im vergangenen Monat lief es anders als sonst – und war nachhaltig verstörend für alle beteiligten Kräfte: Bei einem routinemäßigen Rettungseinsatz musste im Berufsverkehr eine Fahrspur gesperrt werden. Das führte zu einem sehr zähen Verkehrsfluss und langem Rückstau. Offenbar zu viel für einen der Pendler: Er stieg aus seinem Auto, machte seinem Ärger erst verbal – und dann körperlich aggressiv Luft. Er riss einem Helfer den Schlauch aus der Hand, schubste ihn und dieser landete völlig perplex auf dem Bordstein. Die zu Hilfe eilenden Kollegen konnten Schlimmeres verhindern. „Wir waren bereits mit den Aufräumarbeiten beschäftigt – plötzlich stand der Mann mitten unter uns und rastete einfach aus“, so Sven Puchert. „Wir waren so überrascht, dass wir einige Sekunden brauchten, um die Situation überhaupt zu realisieren. Wir sind auf diese Konflikt-Situationen einfach nicht vorbereitet! Dann haben wir intuitiv gehandelt und den Kollegen aus der Lage befreit und den Angreifer isoliert. Wir haben deeskalierend auf ihn eingewirkt und ihn dazu bringen können, uns unsere Arbeit ungestört beenden zu lassen.“
Keine Einzelfälle mehr
Eine Szene, die deutschlandweit tagtäglich leider so – oder ähnlich passiert. Und nicht immer läuft es so glimpflich für alle Beteiligten ab. Seit Jahren nimmt die Gewalt gegen Rettungskräfte zu. Das beschäftigt nicht nur die Helfer selbst – sondern auch die Gerichte und darüber hinaus auch Wissenschaftler. Woher kommen diese Aggressionen gegen Menschen, die anderen Menschen zum Teil unter Einsatz ihres eigenen Lebens helfen?
Prof. Dr. Thomas Feltes, Kriminologe an der Ruhruniversität in Bochum, hat sich in den vergangenen Jahren intensiv über einen längeren Zeitraum mit dem Thema auseinandergesetzt und Attacken auf Sanitäter, Polizisten oder Feuerwehrleute erforscht und sie miteinander verglichen. 2017 wurde eine Studie zur Sammlung und Analyse von Daten zur Gewalt gegen medizinisches Rettungsdienstpersonal durch Unfallkasse NRW, Ministerium des Innern NRW, Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales NRW, komba-Gewerkschaft nrw in Auftrag gegeben. Hierzu nahmen über einen Zeitraum von zwei Monaten insgesamt 4500 Einsatzkräfte aus NRW an der Umfrage teil. Die Ergebnisse wurden im Rahmen einer Abschlussveranstaltung im Februar 2018 vorgestellt.
Zahlen, Daten, Fakten
Wie oft kommt es zu Gewalt?
Von den befragten Einsatz- und Rettungskräften wurden nach eigenen Angaben knapp 2/3, also 64 Prozent, innerhalb der letzten 12 Monate Opfer von Gewalt.
Wo kommt es verstärkt zu Gewalt?
In Großstädten sind Rettungseinsätze besonders gefährlich: In Städten über einer halben Millionen Einwohner finden Übergriffe auf Helfer doppelt so häufig statt als in kleineren Städten. Insbesondere sind die Innenstadtbereiche von Eskalationen betroffen.
Wann kommt es verstärkt zu Übergriffen?
Über 60 Prozent aller Übergriffe gegen Rettungskräfte finden nachts, das bedeutet in der Zeit zwischen 18:00 Abends und 5:00 Uhr morgens statt.
Wer sind die Täter?
Die Personen, die übergriffig werden, sind meist männlich (85 % bei körperlicher und 92 % bei verbaler Gewalt), und oft unter 30 Jahre alt. Bei nonverbaler Gewalttätigkeit liegt praktisch eine Drittelung vor: In 34 Prozent der Fälle sind es die Patienten oder Betroffenen selbst, 20 Prozent deren Angehörige – und zu 30 Prozent unbeteiligte Passanten und Schaulustige. Verbale Gewalt geht zu 42 Prozent von Patienten / Betroffenen, 24 Prozent von Angehörigen und zu 19 Prozent von Passanten oder Schaulustigen aus. Kommt es zu körperlicher Gewalt, geht diese zu fast 75 Prozent von Patienten oder Betroffenen aus.
Alkohol spielt insgesamt eine große Rolle bei Übergriffen.
Welche Arten von Übergriffen gibt es?
Bei den Übergriffen handelt es sich um verbale, nonverbale und körperliche Gewalt: Von Beleidigungen, Pöbeleien sowie dem Androhen von Gewalt und eindeutige Gesten wie dem gestreckten Mittelfinger – bis hin zu tatsächlichen körperlichen Angriffen ist die Bandbreite der Störungen und Attacken, die von den Angreifern ausgehen, sehr groß. Auch die Sabotage oder das direkte Eingreifen in die Rettungsaktionen finden immer häufiger statt.
Am häufigsten von Gewalt betroffen sind Einsatzkräfte im Rettungseinsatz: Insgesamt sind knapp 94 Prozent dieser Teilnehmergruppe Opfer von Gewalt geworden, seltener sind mit 42 Prozent Einsatzkräfte im Brandeinsatz betroffen.
Auswirkungen und Folgen anhaltender Übergriffe
Da die Mitarbeiter der Rettungsdienste in den vergangenen Jahren immer häufiger über Störungen, Behinderungen und gewalttätige Übergriffe berichten, nahm auch die Berichterstattung in den Medien zu, was das Problem mehr und mehr in den Fokus der Öffentlichkeit brachte. So reagiert mittlerweile auch die Politik: Mit dem Thema beschäftigen sich auch die Landtage in den Innenausschüssen intensiv, was wiederum zu einer Reihe von Gesetzesanpassungen führte: So wurden die §§ 113 und 114 StGB (Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte und gegen Personen, die Vollstreckungsbeamten gleichstehen) ausgeweitet und verschärft.
Auch die psychologischen Auswirkungen auf die Rettungskräfte sind vielfältig: Ängste vor neuen Einsätzen, Unsicherheit und Misstrauen gehören immer häufiger zu den Begleiterscheinungen im daily Business – und dennoch fühlen sich immerhin knapp 61 Prozent der Befragten im Einsatz sicher.
Bei der Interpretation der Ergebnisse muss berücksichtigt werden, dass die Rettungskräfte pro Jahr mehrere Hundert Einsätze absolvieren. Damit sind gewalttätige Übergriffe nach wie vor ein eher seltenes Ereignis – auch wenn die Dunkelziffer sicher höher liegt sowie die Meldung von Übergriffen selten geschieht: So gaben etwa 80 Prozent der von verbaler und nonverbaler Gewalt betroffenen Einsatzkräfte an, dass sie den letzten Übergriff auf ihre Person nicht meldeten.
Auch die Ausbildung spielt, schon jetzt aber noch viel mehr in der Zukunft eine wichtige Rolle bei Rettungskräften. Die Safetytour bietet Euch den passenden Workshop zum Thema.
Quellen:
„Gewalt gegen Einsatzkräfte der Feuerwehren und Rettungsdienste in NRW“, Ruhr Universität Bochum, Lehrstuhl für Kriminologie, Kriminalpolitik und Polizeiwissenschaft Professor Dr. Thomas Feltes.